Stille Nacht

Das Kandahar Massaker


Es ist gegen Mitternacht, als Sergeant Robert Bales das Feldlager Camp Belambay verlässt. Die Nacht ist ruhig, kalt – noch ist es Winter. Zu Fuss macht sich Bales zur nahegelegenen Siedlung “Alkozai” auf, er ist bewaffnet. Was folgt, gilt heute als eines der schwersten Kriegsverbrechen des Afghanistan-Konflikts.

Timeline

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Das Massaker von Kandahar ist kein Einzelfall: Seit 2001 hat es im Afghanistan-Konflikt zahlreiche Zwischenfälle mit zivilen Opfern gegeben. So unterschiedlich die Ereignisse gelagert sind: Opfer ist meist die afghanische Landbevölkerung. Unsere Karte zeigt einige gut dokumentierte Fälle, an denen NATO-Truppenangehörige beteiligt waren. Doch das ist nur eine Seite der Medaille: Eher noch stärker tragen die Taliban dazu bei, dass die zivilen Opferzahlen seit 2009 wieder angestiegen sind: So rechnete die UNO etwa für das Jahr 2010 über drei Viertel der zivilen Opfer den Taliban und anderen Widerstandsgruppen zu.

 

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  • In der Nacht des 11. März 2012 verlässt der Bales das Camp Belambay in Kandahar. In zwei umliegenden Dörfern tötet er 16 Menschen, 6 werden verletzt. Bales wird um 4:36 Uhr von Kollegen aufgegriffen, als er ins Camp Belambay zum zweiten Malzurückkehrt. Nachrichten über verwundete afghanische Zivilisten hatten die Basis erreicht.

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  • “Die Opfer spüren eine gewisse Genugtuung”

    Robert Bales, der Amokläufer von Kandahar, ist im August für seine Tat zu einer unbedingten,
    lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt worden.

    Lela, wie ist das Urteil denn zu bewerten?
    Ob das nun das “richtige” Urteil ist – schwer zu sagen. Es bleiben viele offene Fragen: Warum wurden Spuren nicht weiterverfolgt, die auf die Beteiligung weiterer Soldaten an dem Massaker hindeuteten? Warum haben die Strafverfolger die Option Todesstrafe so schnell aufgegeben, ohne von Bales im Gegenzug Informationen über allfällige Mittäter zu bekommen? Solche Fragen gibt es viele. Der Verdacht, dass die US-Armee weitere, vielleicht höher gestellte Mitwisser decke, konnte nie völlig ausgeräumt werden. Andererseits: Die lebenslängliche Haftstrafe gegen Bales ist die längste Strafe gegen einen US-Armeeangehörigen seit vielen Jahren, die Todesstrafe wurde seit dem Vietnamkrieg nicht mehr verhängt. Dass die schnelle Reaktion der Zivilbevölkerung zu einem Prozess und einem Schuldspruch gegen Sgt. Bales geführt hat, ist psychologisch sehr wichtig für die Afghanen. Es zeigt ihnen, dass es sich lohnt, sich auch gegen die scheinbar übermächtigen Amerikaner zu erheben. Diese wiederum können sich z.B. ein allzu lasches Vorgehen bei der Beweiserhebung und Aufarbeitung in solchen Fällen wohl nicht mehr leisten.

    Warum kam es denn gerade in diesem Fall zum Prozess und zu der Verurteilung?
    Die Bevölkerung in der Umgebung von Camp Belambay hat direkt nach den Geschehnissen der Unglücksnacht vieles richtig gemacht: So wurden die Verletzten noch in der Nacht nicht in ein afghanisches Krankenhaus, sondern zum amerikanischen Stützpunkt Zangabad gebracht. Am Morgen dann wurden fast alle Leichen direkt vor den Eingang von Camp Belambay gelegt, und die Dorfbewohner demonstrierten lauthals vor dem Stützpunkt. Spätestens, als die afghanische Presse vor Ort eintraf und Fotos der Demonstration und der Toten machte, war es nicht mehr möglich, die Sache unter Verschluss zu halten.

    Im Film spricht Haji Wazir, der durch das Massaker 11 Angehörige verloren hat, davon, er wolle Sergeant Bales “hängen sehen”. Wie beurteilen die Opfer das Urteil?
    Ich habe rund um das Straffestsetzungsverfahren noch einmal ausführlich mit den Angehörigen gesprochen. Sicher, für die Opferfamilien wäre die Todesstrafe das einzig angemessene Urteil gewesen. Aber auch sie registrieren mit einer gewissen Genugtuung, dass es überhaupt zu einer Verurteilung gekommen ist. Und auch, dass einige von ihnen dann doch in die USA eingeladen wurden, um auszusagen, gibt ihnen Mut, dass ihre Stimme nicht völlig ungehört verhallt – auch wenn sie erst sehr spät und nur zu wenigen vorbereiteten Fragen in den Prozess einbezogen wurden.

    Den Opfern eine Stimme zu geben – das war auch ein Beweggrund für dich, den Film “Stille Nacht” zu machen. Kannst du kurz schildern, wie du den Kontakt zu den Opfern hergestellt hast, und wie die bewegenden Bilder und Aussagen zustande gekommen sind?

    Den Kontakt zu den Opfern konnte ich über den afghanischen Journalisten Mamoon Durrani herstellen, der schon am Tag nach dem Massaker vor Ort war. Ihn kannte ich schon von anderen Projekten im Land. Ich selbst verbrachte dann eine ganze Woche mit den Opfern, bis ich die Interviews am letzten Tag gedreht habe: Ich denke, sonst wären die Aussagen so nicht zustande gekommen. Es brauchte diese Zeit und sicher auch, dass ich die Sprache der Opfer spreche und verstehen kann. Es gab dabei auch einige interessante Zwischentöne: Die Männer in Panjiwai sind sich nicht gewohnt, mit Frauen zu sprechen, weibliche Zeuginnen wurden auch nicht vernommen, obwohl es sie gegeben hätte. Aber als ich diese Hürde einmal genommen hatte, entstand ein sehr warmes, vertrauensvolles Verhältnis. Wir tauschen uns immer noch regelmäßig aus. Haji Wazir hat mir vor kurzem gedankt: Er habe durch die Arbeit mit mir viel für spätere Medientermine und seine Aussagen im Prozess gelernt.

    Wie kam es zum Titel “Stille Nacht”?
    Den Begriff haben die Augenzeugen mehrfach verwendet: Die Stille, der Friede und die Dunkelheit, die dann so abrupt unterbrochen wurden. Diese Dörfer sind so abgelegen, und es gibt auch keinen Lichtschalter, keinen Strom. Nacht ist dort wirklich Nacht, dunkel und sehr, sehr ruhig. Diese Stimmung habe ich auch im Film zu transportieren versucht.

    Ist der Fall mit der Verurteilung Bales’ definitiv abgeschlossen?
    Die Opfer erwägen, eventuell vor den Menschenrechtsgerichtshof zu gehen, um noch einmal ausführlicher zu der Angelegenheit gehört werden zu können. Aber ansonsten: Vermutlich ja.

    Das Interview führte Stephan Bader